Müncheberger Tomaten

Von der Wildtomate zur Hochleistungssorte. Tomatenstämme aus Müncheberg

Von Heinz-Dieter Hoppe (Recherchen bis 10.04.2022)

Müncheberg, eine östlich von Berlin im Landkreis Märkisch-Oderland gelegene Kleinstadt beherbergt seit Ende der 1920er Jahre mehrere landwirtschaftliche Forschungseinrichtungen. Begonnen hat es mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung (1928-1945) (Wikipedia 2021a). Gegenwärtig ist es das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF).

Reinhold von Sengbusch war seit Eröffnung des Instituts bis 1937 als Abteilungsleiter angestellt. Er war einer der vielseitigsten Wissenschaftler und Pflanzenzüchter Deutschlands. Unter seiner Leitung gelang es alkaloidfreie Mutanten bei Lupinen aufzufinden und daraus eine neue Kulturpflanze, die Süßlupine zu entwickeln. Sengbusch beschäftigte sich u.a. mit Getreide, Gemüse, Obst und Industriepflanzen (Sengbusch um 1980). Er züchtete z. B. die einhäusigen (monözisch) Spinatsorten ‘Wisemona’ und ‘Somona’. Am bekanntesten dürfte allerdings die Erdbeersorte ‘Senga Sengana’ sein (Wikipedia 2021b). Neben seiner Tätigkeit in der Forschung, entwickelte er Eiweißuntersuchungs-, Öl- und Faserbestimmungsmethoden und konstruierte neue Apparate, die die Prüfung und Verarbeitung von großen Materialmengen in der Pflanzenzüchtung erleichterten (Stubbe 1958).

1930 übernahm Sengbusch F1-Nachkommenschaften aus Kreuzungen zwischen Solanum pimpinellifolium (damals als racemigerum bezeichnet) und verschiedenen Sorten von Kulturtomaten (Solanum lycopersicum) (Hackbarth et al. 1933). Die Ausgangskreuzungen führte die Wissenschaftlerin Hanna Becker durch, wahrscheinlich am Institut für Vererbungslehre in Berlin-Dahlem. S. pimpinellifolium (Abb. 1) ist eine kleinfrüchtige, süß schmeckende Wildform aus Südamerika, die sich durch Frühreife, Platzfestigtigkeit und Resistenz gegen die Samtfleckenkrankheit (Fulvia fulva, syn. Cladosporium fulvum) auszeichnet. Sie reift ca. 8 – 14 Tage früher als damalige Kulturformen der Tomate (Tab. 1).

Abb. 1: Solanum pimpinellifolium (Wildtomate) freilaufend, nicht ausgegeizt (Foto G. + H.-D. Hoppe)

Tab. 1: Auszug aus den Sortimentsbeobachtungen 1931 (entnommen aus: (Hackbarth et al. 1933))

1931 untersuchten Sengbusch und Mitarbeiter (Joachim Hackbarth und Natascha Loschakowa-Hasenbusch) die F2-Nachkommenschaften auf züchtungsrelevante Merkmale. Wobei insbesondere Frühreife und Großfrüchtigkeit berücksichtigt wurden. Zum Vergleich wurden damals gängige Kutursorten angebaut (Tab.1). Innerhalb der 5.000 Einzelpflanzen wurden keine großfrüchtigen Genotypen gefunden. Das bedeutet, dass ein polyfaktorieller Erbgang für das Merkmal vorliegt. Zur Auslese der gesuchten Formen sind daher wesentlich größere Pflanzenbestände notwendig. Parallele Untersuchungen zeigten, dass eine positive Korrelation zwischen der Fruchtknotengröße in der Blüte und der Fruchtgröße bestehen (Abb. 2). Dadurch wird es möglich, bereits zum Zeitpunkt der ersten Blüte, großfrüchtige Genotypen auszulesen (Sengbusch 1935).

Abb. 2: Schematische Darstellung der Beziehung von Fruchtknotengröße (obere Reihe) und Fruchtgröße (untere Reihe) (entnommen aus: Sengbusch 1935).

In Müncheberg wurde daher wie folgt vorgegangen: In Abständen von etwa einem Monat erfolgte die Aussaat von jeweils 10.000 Nachkommen, Pflanzung ins Mistbeet und Bonitur der Fruchtknotengröße an den zuerst blühenden Genotypen. Alle frühblühenden Pflanzen mit großen Fruchtknoten gelangten zur Weiterkultur. Ein Teil von ihnen wurden mit Kultursorten zurückgekreuzt. Auf diesem Wege entstanden frühreifende, großfrüchtige Linien (Tab. 2). Die Linien mit einem Fruchtgewicht von über 30 g wurden 1935 einer Reihe von Zuchtbetrieben zur eigenen züchterischen Bearbeitung zur Verfügung[1] gestellt.

Saat Nr.Sorte bzw. RückkreuzungMittlere Reifezeit in Tage
1026‘Tuckswood’131,2
1027S. racemigerum115,1
1028F2 ‘Tuckswood’ x S. racemigerum117,4
1029F2 ‘Westlandia’ x S. racemigerum120,9

Tab. 2: Unterschiede in der Reifezeit zwischen der Wildform, den Kreuzungsprodukten und eines der Rückkreuzungseltern 1932 (entnommen aus: Hackbarth et al. 1933)

Seit 1937 sind in Saatgutkatalogen Sorten zu finden, die auf die Müncheberger Linien zurückgehen. In den ersten Jahren sind es vor allem die Nachkommen aus Einzelpflanzenselektionen, die als neue Sorten angepriesen werden (siehe Tabelle 3). Bei Heinemann ist 1937 zu lesen, dass die Zucker-Tomate sich noch im Versuchsstadium befindet (Heinemann 1937). Haage beschreibt sie 1938 als neues Obst (Haage, Friedr. Adolph Jun. Erfurt 1938). Weigelt hat unterschiedliche Linien selektiert, von denen er bereits 1938 eine als ‘Grossfrüchtige Zucker’ bei der Sortenregisterstelle anmeldete (Reichsnährstand – Sortenregisterstelle 1938). Nach einem Jahr Prüfung wird die Linie allerdings als unzureichend eingestuft.

Kurios ist, dass in allen alten Saatgutkatalogen nicht der korrekte Name der Wildform S. racemigerum, sondern S. racemigrum zu finden ist (Abb. 3). Möglicherweise ist das auf einen Tippfehler im Anschreiben für die Saatgutübergabe an die Züchter zurückzuführen.

Abb. 3: Hauptpreisverzeichnis Rudolf Schreiber & Söhne 1937-38 (Schreiber 1937)

Die frühreifenden Müncheberger Linien werden nach der ersten Euphorie der „Zuckertomaten“ zunehmend als Kreuzungspartner mit ertragreichen Sorten genutzt. Die erste daraus zugelassene Sorte war ‘Benarys Gartenfreude’, die bis 1960 in der Sortenliste der DDR stand (Zentralstelle für Sortenwesen). 2008 erfolgte durch die Ernst Benary Samenzucht Hann. Münden eine Neuzulassung als ‘Freude’ (‘Gardener’s Delight’) (Bundessortenamt 2022). Die Zulassung hat immer noch Gültigkeit.

Zuchtmaterial der Firma Rudolf Schreiber & Söhne wurde nach dem II. Weltkrieg durch das Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg übernommen und weiterentwickelt. 1951 erfolgte die Zulassung der ‘Frühen Liebe’ (syn. ‘Quedlinburger Frühe Liebe’), sie ist aus der Kreuzung ‘Allererste’ x ‘Mikado’ entstanden (Kraus 1954). 1961 wurde die Zulassung gestrichen. Die „Frühen Liebe“ gehört zu den Erhaltersorten des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN).

Den größten Erfolg feiert das Müncheberger Material in der Stabtomatensorte ‘Harzfeuer F1’. Einer der Eltern ist die ‘Frühe Liebe’ (Abb. 4). Die ‘Harzfeuer F1’ zählt zu den bekanntesten und beliebtesten deutschen Sorten. Sie ist seit 1959 zugelassen (Zentralstelle für Sortenwesen)! Von den drei Erhaltungszüchtern ist auch einer in Quedlinburg ansässig, die ISP International Seeds Processing (Bundessortenamt 2022).

Abb. 4: In der Mitte die Sorte „Harzfeuer F1“ (noch als Primavera bezeichnet [2]). Links „Frühe Liebe“ und rechts „Moneymaker“, die beiden Elternlinien (Foto: Jürgen Meusel)

Von den in Tab. 3 aufgeführten und nicht extra erwähnten Sorten sind nur noch die „Zuckertomate“, „Lyconorma“ und „Lycoprea“ in der Genbank des IPK Gatersleben als Akzessionen zu finden. Die beiden letztgenannten Sorten sind Buschtomaten und speziell für norddeutsche Verhältnisse unter Beteiligung von Sengbusch gezüchtet worden (Sengbusch um 1980). Sie sind besonders frühreif und reifen im Hamburger Raum bei Freilandkultur bereits Mitte Juli, während andere Sorten erst nach dem 1. August reife Früchte liefern. „Lyconorma“ und „Lycoprea“ haben wahrscheinlich Kreuzungseltern, die aus dem ursprünglichen Müncheberger Rückkreuzungsprogramm stammen.

SortennameFirmaJahrZuchtverfahren
‘Zucker-Tomate’F. C. Heinemann Erfurt1937Einzelauslese
‘Allererste’Rudolf Schreiber & Söhne Quedlinburg1937Einzelauslese
‘Rote Beere’Rudolf Schreiber & Söhne Quedlinburg1937Einzelauslese
‘Zucker-Tomate kleinfrüchtig’Weigelt & Co. Erfurt1938Einzelauslese
‘Zucker-Tomate großfrüchtig’Weigelt & Co. Erfurt1938Einzelauslese
‘Zuckertomate’Friedr. Adolph Haage Jun. Erfurt1938Einzelauslese
‘Zuckertomate kleinfrüchtig’Ernst Benary Erfurt1939Einzelauslese
‘Fromholds Müncheberger Frühtomate’E. Fromhold & Co. Naumburg1945Wahrscheinlich Kreuzung
‘Benarys Gartenfreude’Ernst Benary Erfurt1950Mutation aus ‘Rote Beere’
(Quedlinburger) ‘Frühe Liebe’Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg1951Kreuzung
‘Schreibers Priora’Rudolf Schreiber & Söhne Braunschweig1954Kreuzung
‘Harzfeuer F1’Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg1959Kreuzung
‘Lyconorma’ (Buschtomate)BA f. Züchtungsforschung an Kulturpflanzen Ahrensburg1970Kreuzung
‘Lycoprea’ (Buschtomate)BA f. Züchtungsforschung an Kulturpflanzen Ahrensburg1970Kreuzung
‘Freude’ (‘Gardener’s Delight’)Ernst Benary Samenzucht Hann. Münden2008?

Tab. 3: Sorten von Kulturtomaten, die nachweislich aus den Müncheberger Zuchtlinien direkt selektiert oder mittels Kreuzungszüchtung weiterentwickelt wurden

Wahrscheinlich wurden noch mehr Sorten unter Nutzung der frühreifen Formen von Sengbusch gezüchtet. Es ist allerdings schwierig dies nachzuvollziehen, da nicht alle Züchter die Herkunft bzw. die Kreuzungspartner benennen. Das Beispiel aus Müncheberg zeigt, welche Bedeutung die Forschung für die Entwicklung von verbesserten Sorten und deren Vielfalt hat.

Literaturverzeichnis

Benary, Ernst Erfurt (1939): Haupt-Preisverzeichnis 1939. Erfurt.

Bundessortenamt (2022): Sorteninformationen. Hannover. Online verfügbar unter https://www.bundessortenamt.de/apps6/bsa_sorteninfo/public/de, zuletzt geprüft am 06.04.2022.

Haage, Friedr. Adolph Jun. Erfurt (1938): Gartenbuch 1938.

Hackbarth, J.; Loschakowa-Hasenbusch, N.; Sengbusch, R. v. (1933): Die Züchtung frühreifer Tomaten mittels Kreuzungen zwischen Solanum lycopersicum und Solanum racemiger. In: Der Züchter 5 (5), S. 97–105.

Heinemann, F. C. (1937): Ratgeber und Hauptkatalog 1937. Erfurt.

Kraus, Wilhelm (1954): Frucht- und Zwiebelgemüse. Arten- und Sortenkunde: Deutscher Bauernverlag (Arbeiten des Sortenamtes für Nutzpflanzen, 6).

Reichsnährstand – Sortenregisterstelle (1938): Besichtigung der Treibtomaten – Sortiment in Straelen am 23.VII.38: Landesarchiv Sachsen-Anhalt (I 82, Nr. 234).

Reichsnährstand – Sortenregisterstelle (1945): Durchschriften von Prüfungsbefunden: Landesarchiv Sachsen-Anhalt (I 82, Nr. 226).

Schreiber, Rudolf &. Söhne (1937): Hauptpreisverzeichnis 1937/38. Quedlinburg.

Schreiber, Rudolf &. Söhne (1950): Hauptpreisverzeichnis 1950/51. Braunschweig.

Sengbusch, R. v. (1935): Die Müncheberger Tomatenarbeiten. Müncheberg. Online verfügbar unter https://pure.mpg.de/rest/items/item_39081_6/component/file_52548/content, zuletzt geprüft am 15.04.2021.

Sengbusch, R. v. (um 1980): Von der Wildpflanze zur Kulturpflanze. Eine Dokumentation meiner Arbeiten. Unveröffentlicht.

Stubbe, H. (1958): Reinhold von Sengbusch zum 60. Geburtstag am 16.02.1958. In: Der Züchter (Zeitschrift für theoretische und angewandte Genetik) 28 (1), S. 1–3. Online verfügbar unter http://hdl.handle.net/11858/00-001M-0000-0013-6D82-3, zuletzt geprüft am 02.04.2022.

Weigelt & Co. Samenzüchter (1938): Hauptpreisverzeichnis 1938. Erfurt.

Wikipedia (Hg.) (2021a): Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung. Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kaiser-Wilhelm-Institut_für_Züchtungsforschung&oldid=210059734, zuletzt aktualisiert am 21.03.2021, zuletzt geprüft am 11.04.2022.

Wikipedia (Hg.) (2021b): Reinhold von Sengbusch. Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Reinhold_von_Sengbusch&oldid=213708569, zuletzt aktualisiert am 09.07.2021, zuletzt geprüft am 11.04.2022.

Zentralstelle für Sortenwesen der DDR: Sortenliste für landwirtschaftliche Kulturarten, Gemüse und Obst: VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag. Jahrgänge 1950, 1951, 1959, 1961, 1990


[1] Die Bereitstellung von bearbeiteten Zuchtlinien (Forschungsmaterial) aus Forschungseinrichtungen an praktisch tätige Züchter wird Pre-Breeding genannt. Das Material stellt eine Vorstufe für die Sortenentwicklung dar. Die eigentliche Züchtung bis zur Zulassung erfolgt dann durch den Empfänger. Das ist ein übliches Verfahren, welches auch heute noch praktiziert wird.

[2] Bezüglich der Bezeichnung Primavera siehe https://vern.de/tomaten-aus-mitteldeutschland-teil-2/

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