Rudolf Schreiber – Ein vielseitiger Pflanzenzüchter und Unternehmer

Von Rolf Bielau† (Recherchen bis 31.01.2022)

Rudolf Schreiber, Pflanzenzüchter, Kunst- und Handelsgärtner (25.01.1864 – 16.10.1956) leitete in Quedlinburg eines der erfolgreichsten Züchtungsunternehmen Deutschlands. Er hatte sehr enge persönliche Verbindungen zur Familie David Sachs, Bürger jüdischen Glaubens, und deren Kindern, die alle zum protestantischen Glauben konvertierten.

Seine Gärtnerlehre zum Kunst- und Handelsgärtner absolvierte der Arztsohn Rudolf gemeinsam mit Hugo Sachs, dem Sohn der erst wenige Jahre zuvor gegründeten Fa. David Sachs in Quedlinburg, in den Jahren von1882 bis 1884 in Erfurt bei der Großgärtnerei Doppleb. Mit Hugo Sachs sollte Rudolf lebenslang freundschaftlich verbunden bleiben, was später zur Teilhaberschaft Rudolf Schreibers an der Fa. David Sachs führte.

Abb. 1: Rudolf Schreiber (Copyright E.-R. Schreiber)

Nach der Lehre ging Schreiber 1884 zur Stuttgarter Samenbaufirma Pfitzer, wo er den Gemüsesamenbau und Vertrieb als Angestellter erlernte. Von 1887 bis 1888 arbeitete er in einer Gärtnerei in London South Norwood, die auf Zierpflanzen und Zimmerpalmen spezialisiert war. Um seine Berufskenntnisse zu vertiefen, wechselte er nach einem Jahr in eine Gärtnerei bei Paris in Aubervilliers, eine Zierpflanzengärtnerei, die viele exotische Pflanzen führte und ihm weitere Erfahrungen vermittelte. Seine Auslandsaufenthalte hatten ihm auch zum Erlernen der englischen und französischen Sprache gedient.1889 kam er zurück in seine Heimatstadt Quedlinburg. Durch die Unterstützung seines Freundes, Hugo Sachs, übernahm er in seiner nun vierten Arbeitsstelle die Gemüsesamenabteilung der Firma David Sachs. Doch schon bald – noch war er ledig – wechselte er nach Stedten bei Erfurt, wo er ab 1892 mit seinem Bruder Alfred das dortige Rittergut pachtete. An jenem Ort begann er mit ersten Züchtungsarbeiten zu Zucker- und Futterrüben sowie Buschbohnen.

Im Jahre 1900 heiratete er Mathilde Hörnicke aus Kroppenstedt. Mit der Mitgift seiner Ehefrau erwarb er eine Teilhaberschaft (40% der Geschäftsanteile) und wurde so Mitgesellschafter im nunmehr drittgrößten Quedlinburger Saatzucht- Unternehmen von David Sachs. Das Geld wurde für den Kauf der ehemaligen Weberschen Zuckerfabrik im Badeborner Weg verwendet.

Der Sohn Hugo Sachs, unverheiratet, arbeitete von 1885 an im Unternehmen und führte den Familienbetrieb ab dem 1.Juli 1900 bis zu seinem frühen Tode im Jahr 1917 weiter. In der Firma war er für den kaufmännischen Teil zuständig. Der Landgerichtsrat Hans Sachs und Rudolf Schreiber übernahmen nun die Fa. David Sachs. Ob Hugo und Hans Sachs auch neuzüchterisch tätig waren, ist nicht belegt. Es kann aber angenommen werden. Eine eindeutige Zuordnung der Sorten in dem umfangreichen Sortiment von 3000 bis 4000 Sorten ist auch für Rudolf Schreiber nicht immer sicher.

Rudolf Schreiber verantwortete die Geschäftsbereiche Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft, Saatgutvermehrung und Qualitätsmanagement. Er trug durch eigene Zucker- u. Futterrüben-Sorten zum Angebot der Fa. David Sachs bei. Schreiber wendete für seine Zuchtarbeiten als einer der ersten praktisch tätigen, deutschen Pflanzenzüchter die Mendelschen Vererbungsregeln an.

Als Gemüsezüchter schuf er u.a. ein zahlreiches Bohnen- und Erbsensortiment (Abb. 2 + 3). Diese beiden Gemüsearten waren seine wichtigsten Zuchtobjekte. Er benötigte allein für Erbsen 800 ha zu züchterischen Zwecken. Das Unternehmen Hans Sachs führte als erstes in Deutschland zwecks besserer Beurteilung und Vermehrung von Zuchtstämmen ihre Anzucht am Drahtzaun ein. Nach dem II. Weltkrieg wurde diese Methode auch im späteren Institut für Pflanzenzüchtung/Züchtungsforschung Quedlinburg umfangreich genutzt.

Abb. 2 + 3: Abbildungen aus Saatgutkatalog Rudolf Schreiber & Söhne 1942/43

Die erste fadenlose Bohne ‘Saxa’ (1914) stammt von ihm. Eine weitere sehr erfolgreiche Sorte war die Erbse Konservenkönigin, welche1938 in den Handel kam. Der jährliche Export von Erbsen- u. Bohnensaatgut betrug um 1932 125 Tonnen.

Rudolf Schreiber liebte Zierpflanzen. Er erkannte 1938 als einziger Pflanzenzüchter die züchterische Bedeutung der genetischen Arbeiten von Hans Kappert (und Eva Pauly, d. A.) zu allgefüllten Levkojen (Matthiola incana L.).1939 holte er daher die Mitentwicklerin eines Früherkennungsverfahrens für gefüllte Genotypen, Frau Eva Pauly, nach Quedlinburg. Diese führte nach 1947 im Institut Pflanzenzüchtung die Zuchtarbeiten fort. Die Schreiber (Pauly?) Levkojen-Sorten waren weltweit bekannt. Die Levkoje wurde über Jahrzehnte die Quedlinburger Blumenart!

Schreibers Sohn Fritz (1905-91), Pflanzenzüchter, Dr. rer. nat. habil, kam 1932 in die Firma und wurde als Saatzuchtleiter eingesetzt. Er promovierte zur Resistenzzüchtung bei Bohnen.

Sein Bruder Johannes „Hans“ (1910-45) war Gärtnermeister und Landwirt sowie gleichfalls in der Firma tätig.

Auch vor Hans Sachs machte die Judenverfolgung in Deutschland keinen Halt. Er wusste schnell, dass die Firma, im Nazijargon, „arisiert“ werden würde.

„19./23.07. und 22.09.1937 kam es zu einem neue(n) Gesellschaftsvertrag aus Furcht vor der drohenden Arisierung: der Name Sachs wurde durch „Rudolf Schreiber & Söhne“ ersetzt, die Firma als Kommanditgesellschaft eingetragen, persönlich haftender Gesellschafter wurde Rudolf Schreiber, dessen Söhne und Hans Sachs‘ nichtjüdische Ehefrau Elisabeth wurden Komplementäre, so konnte das Sachs-Vermögen zunächst versteckt in der Firma verbleiben (Scheinarisierung).“[1]

Hans Sachs und seine Schwester Henni Jacob, geb. Sachs, übertrugen ihre Geschäftsanteile auf Rudolf Schreiber. Hans Sachs Frau Elisabeth musste 1942 auf Druck der Faschisten ihre restlichen Geschäftsanteile an die neue Firma abgeben. Schreiber setzte die erfolgreiche züchterische Arbeit bis zur Enteignung durch die sowjetische Besatzungsmacht fort.

Während Henni Jacobs 1943 in Theresienstadt ermordet wurde, konnte Hans Sachs nach seiner Haft als „Novemberjude“ im KZ Buchenwald (er war 64 Jahre alt) und weiteren Inhaftierungen sowie Repressalien durch die Gestapo, die Zeit des faschistischen Terrors überleben.

Auf Verordnung der sowjetischen Militäradministration über die Bodenreform in der Provinz Sachsen wurden am 27.10.1945 die Firmen Dippe AG, Mette & Co. GmbH und Rudolf Schreiber & Söhne KG enteignet und in den Vereinigten Quedlinburger Pflanzen- und Saatzuchtbetrieben zusammengefasst.  Rudolf Schreiber & Söhnewar nun zum DSG III Betrieb geworden. Die samenbaulichen Aktivitäten in Quedlinburg konnten damit vor einer Aufteilung in Kleinbetriebe gerettet werden.

Am 01.01.1950 ging der ehemalige Schreiber-Betrieb in das Volkseigene Saatzuchthauptgut (VEG) Quedlinburg über. Rudolf Schreiber ist auf dem Quedlinburger Zentralfriedhof beigesetzt. Die Grabstelle von ihm und seiner Familie (Abb. 4) liegt in der unmittelbaren Nähe zu der der Familie David Sachs. Je eine Erinnerungstafel verweisen auf die Lebensdaten und -leistungen beider eng miteinander verbundenen Familien.

Abb. 4: Grabstätte der Familie Schreiber auf dem Quedlinburger Zentralfriedhof (Foto Heinz-Dieter Hoppe)

Die Firma Rudolf Schreiber & Söhne KG wurde ab 1948 als GmbH in Braunschweig weitergeführt. Leitender Pflanzenzüchter und Mitinhaber der neu gegründeten Firma war Fritz Schreiber. Das Saatzuchtunternehmen existierte bis 1972.

Literaturquellen

Der Inhalt basiert auf Dokumentationen und Mitteilungen von Ernst Rudolf Schreiber und Katharina Baumgart (beide Berlin) aus denen der Autor wesentlich zitiert.

Saatgutkatalog von Rudolf Schreiber & Söhne Quedlinburg (1937)

Röbbelen, G. (2002): Biografisches Lexikon zur Geschichte der Pflanzenzüchtung, 2. Folge, Gesellschaft für Pflanzenzüchtung, Heft 55 der Vorträge für Pflanzenzüchtung, Göttingen, S.252ff


[1] Zitat aus: Brecht, E. und Kummer, M. (1996): Juden in Quedlinburg (Juden in Halberstadt 7), Halberstadt


Nachruf

Von Heinz-Dieter Hoppe

† Dr. Rolf Bielau verstarb völlig unerwartet am 05.04.2022 im Alter von 74 Jahren. Er war noch voller Tatendrang und Ideen. Er hinterlässt eine große Lücke in der „Tomaten-Szene“.

Rolf Bielau wurde 1948 in Köthen (Sachsen-Anhalt) geboren. Bereits während seiner Schulzeit interessierten ihn biologische Themen, die sich später auf die Genetik fokussierten. Folgerichtig studierte er ab er 1967 Pflanzenproduktion-Pflanzenzüchtung an die Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. 1971 ging er als Forschungsstudent an das Institut für Züchtungsforschung Quedlinburg und promovierte 1974 mit einer Arbeit zur Nutzung der Langgriffligkeit als mögliche Methode in der Hybridzüchtung von Buschtomaten.

Nach einigen Jahren der Tätigkeit in der Zentralstelle für Anwendungsforschung Agrochemie Cunnersdorf ging Rolf Bielau 1981 nach Quedlinburg zurück. Am Institut für Züchtungsforschung war er Arbeitsgruppenleiter und später Abteilungsleiter für Unter-Glas-Gemüsezüchtung und Saatgutproduktion. Er bearbeitete dort mehrere Gemüsekulturen. Er züchtete u.a. die Tomatensorten ‘Bodeglut F1′, ‘Boderot F1′ (beide gemeinsam mit Friedrich Fabig) und ‘Ines F1′.

Bedingt durch die politische Wende wurde 1991 das Institut in Quedlinburg aufgelöst. Rolf Bielau war danach für verschiedene privatwirtschaftlich geführte Züchtungs- und Saatgutunternehmen im Ausland und in Deutschland tätig. Sein Berufsleben schloss er als Gartenleiter der International Seeds Processing GmbH in Quedlinburg im Jahr 2013 ab.

Nach dem Eintritt in den Ruhestand konnte sich Rolf Bielau wieder den Themen widmen, die ihm besonders am Herzen lagen, den Tomaten und der Agrargeschichte. Er begleitete u.a. aktiv den Tomatentag in Aschersleben, beteiligte sich am Erhalt historischer Tomatensorten im Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN), war Gutachter im Verband der Kleingärtner.

Als Mitglied der Interessengemeinschaft (IG) Saatguttradition in Quedlinburg hat Rolf Bielau mit der Erfassung historischen Schriftgutes und seinen Publikationen einen essentiellen Beitrag zur Darstellung der Geschichte der Pflanzenzüchtung und Saatgutproduktion in Mitteldeutschland geleistet. Als Erster erstellte er eine Gesamtdarstellung der in Mitteldeutschland gezüchteten Tomatensorten.

2021 hat sich Rolf Bielau noch einen Traum erfüllt: Das vom Züchtungsforscher Dr. Manfred Kummer in den 1970er Jahren initiierte und von ihm wieder aufgenommene Projekt des „Quedlinburger Züchterpfads“ wurde durch die IG realisiert und würdevoll an die Welterbestadt übergeben. Damit hat er sich bleibende Verdienste um die Bewahrung der Saatzuchttradition in Quedlinburg erworben.

Mit dem Ableben von Rolf Bielau verlieren wir einen Kollegen und Freund, der immer zur Verfügung stand, um aus seinem großen Erfahrungsschatz zu berichten und Hilfestellung zu leisten. Er war nicht nur Ideengeber für viele Aktivitäten, sondern er war auch immer an ihrer Umsetzung beteiligt. Wir werden Rolf Bielau immer in freundschaftlicher und ehrender Erinnerung behalten.


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